Ambivalenzen - ich weiß nicht, was ich tun soll
„Odi et amo“ – so beginnt der römische Dichter Catull vor rund 2000 Jahren eines seiner berühmtesten Gedichte. „Ich hasse, doch gleichzeitig liebe ich“ bedeutet dieser Satz und beschreibt ziemlich treffend den Zustand einer Ambivalenz – eines gleichzeitigen Empfindens zweier gegensätzlicher Gefühle.
Jeder von uns kennt Emotionen wie Hassliebe oder eine sogenannte Sowohl-als-auch-Einstellung – also gegensätzliche Wertungen ein und derselben Situation oder Person. Die Psychologie beschreibt solche Gefühle und Verhaltensweisen als Ambivalenz.
Menschen verhalten sich oft ambivalent, was dazu führte, dass der Begriff „Ambivalenz“ fast täglich und regelrecht „inflationär“ verwendet wird. Gemeint ist in der Regel eine Person, die durch widersprüchliches Verhalten und Ungereimtheiten im Wesen auffällt. In der Psychologie ist das Thema Ambivalenz von großer Relevanz. Denn ambivalentes Verhalten ist nicht unbedingt harmlos, sondern kann durchaus problematisch werden – und zwar sowohl im privaten als auch im beruflichen Bereich.
Was ist Ambivalenz?
Das Wort stammt aus dem Lateinischen und setzt sich aus den Wörtern „ambo“, was „beide“ bedeutet und „valere“, was so viel bedeutet wie „gelten“ oder „wert sein“. Wer von Ambivalenz betroffen ist, schwankt also – wortwörtlich betrachtet – zwischen zwei Gefühlszuständen bzw. Verhaltensweisen, die für ihn beide gleich viel wert sind. Wir können Ambivalenz also als einen Zustand der psychischen Zerrissenheit bezeichnen.
Der Schweizer Psychiater Paul Eugen Bleuler (1857 – 1939), der sich viel mit der Entstehung und Behandlung psychischer Krankheiten beschäftigte, hat auch das Thema Ambivalenz ausführlich untersucht. Er sah in ambivalentem Verhalten den Auslöser für zahlreiche psychische Störungen und Erkrankungen, wie beispielsweise Autismus und Schizophrenie.
In welchen Symptomen äußert sich eine Ambivalenz?
Einen ambivalenten Menschen erkennt man vor allem daran, dass er sich widersprüchlich verhält und uneins mit sich selbst wirkt. Nun ist nicht jede Stimmungsschwankung und jede Meinungsänderung eine krankhafte Ambivalenz, die therapiert werden muss.
Allerdings kann die Lebensqualität schon ganz schön in Mitleidenschaft gezogen werden, wenn jemand sich nie entscheiden kann. Viele Betroffene klagen über Dauerstress, Panikattacken, Schlafstörungen und Schweißausbrüche. In ganz schweren Fällen kann eine Ambivalenz tatsächlich in einer Depression oder Schizophrenie enden.
Entscheidungsunfähigkeit durch Ambivalenz – was hilft?
Je größer die Auswahl, desto mehr Möglichkeiten einer Entscheidung gibt es. Und vielen Menschen fällt es äußerst schwer, sich zu entscheiden, manche sind sogar gar nicht in der Lage dazu. Das gilt sowohl im beruflichen als auch im privaten Bereich. Studiere ich Deutsch und Geschichte auf Lehramt, werde ich nie erfahren, ob ich nicht vielleicht eine gute Ärztin oder Künstlerin hätte werden können. Gehe ich eine Beziehung ein, muss ich die Vorteile des Single-Lebens aufgeben. Entscheide ich mich für ein Kind, bringt mir das zwar ein großes Glück, nimmt mir dafür aber viele Freiheiten. Was ist richtig, was ist falsch?
Allen, die sich schwer tun, eine Entscheidung zu treffen, möchte ich zunächst sagen: Eine innere Zerrissenheit ist bei wichtigen Entscheidungen völlig normal und darf zugelassen werden. Und als Hilfe möchte ich Ihnen eine einfache Technik vorstellen, die sich als sehr hilfreich erwiesen hat für Menschen, die das Gefühl haben, im wahrsten Sinne des Wortes „zwischen zwei Stühlen“ zu sitzen.
Sie benötigen für diese Technik in der Tat zwei Stühle. Es können auch mehr als zwei sein, sollten Sie mehr als zwei Entscheidungsoptionen haben. Formulieren Sie möglichst genau Ihr Anliegen und die Alternativen, zwischen denen Sie sich entscheiden müssen. Beispiel: Sie sind in ihrem aktuellen Job „eigentlich“ ganz zufrieden, wenn auch viele Abläufe zu langweiliger Routine geworden sind und einige Dinge Sie nerven. In dieser Situation wird Ihnen ein neuer Job angeboten. Einerseits haben Sie Lust auf einen Neuanfang, andererseits Angst davor. Der aktuelle Job ist ja zu – sagen wir – 70 Prozent okay, er ist sicher, und Sie haben sich über Jahre hinweg eingearbeitet. Was, wenn es im neuen Job auch Dinge gibt, die Sie stören (und die gibt es ganz sicher!)? Was, wenn Sie die Probezeit nicht bestehen und am Ende ganz ohne Job dastehen? Wie also entscheiden?
Positionieren Sie die beiden Stühle relativ weit voneinander entfernt in einem Raum und benennen Sie sie „Bleiben-Stuhl“ und „Gehen-Stuhl“. Setzen Sie sich zunächst auf den „Bleiben-Stuhl“. Stellen Sie sich vor, dass die Anteile in Ihnen, die im aktuellen Job bleiben möchten, Ihr Bestes wollen. Rufen Sie sich sämtliche Bilder vor Augen, die mit „Bleiben“ zu tun haben. Was sind die Vorteile – finanzielle Sicherheit, Gewöhnung, das Gefühl, „da weiß ich zumindest, was ich habe“. Springen Sie in Gedanken fünf Jahre, zehn Jahre in die Zukunft. Stellen Sie sich detailliert vor, wie ihr Leben aussehen wird, wenn Sie in ihrem jetzigen Job bleiben. Welche Personen sehen Sie, welche Orte? Was für Gedanken, was für körperliche Empfindungen werden ausgelöst? Bereitet Ihnen die Vorstellung eher Freude oder Bedrückung?
Dann lassen Sie alle Eindrücke vom „Bleiben-Stuhl“ auf diesem zurück und wechseln zum „Gehen-Stuhl“. Wiederholen Sie das Procedere – mit genau dem gleichen Gedanken, nämlich, dass Ihre Anteile, die für den Jobwechsel plädieren, ebenfalls nur Ihr Bestes wollen.
Anschließend lassen Sie auch die Eindrücke und Empfindungen vom „Gehen-Stuhl“ dort und stehen auf. Blicken Sie aus einer gewissen Distanz auf beide Stühle. Welcher der beiden zieht Sie instinktiv stärker an? Welcher löst eher Unbehagen, welcher löst Freude aus?
Diese Technik wird Ihnen – wenn Sie sie ein paarmal geübt haben – ganz sicher helfen, die richtigen Entscheidungen zu treffen!
Bildnachweis: Kathrin Stavenhagen