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Verführung zur Wallfahrt

 11.Verfhrung zur WallfahrtJa, Sie haben richtig gelesen. Heute möchte ich Sie verführen zu einer Wallfahrt. Einer Wallfahrt, einer Pilgerreise - auf Papier.

Sie brauchen keine Wanderausrüstung, sie müssen nicht ihr Zuhause verlassen, Sie müssen keine Übernachtungen buchen. Alles was Sie brauchen, ist Papier, Stifte, Zeit und den Wunsch, sich auf sich selbst einzulassen.

Als leidenschaftliche Wanderin bin ich gerne und so oft wie möglich unterwegs. Egal ob Pfälzer Wald oder Alpen, Kraichgau oder Neckartal – sobald ich meinen Rhythmus gefunden habe, komme ich auf einer anderen Ebene mit mir in Kontakt. Dinge, die im Alltag verloren oder vergessen werden, bekommen plötzlich eine neue Bedeutung, wenn ich meine Aufmerksamkeit nach innen richte. Diese Haltung bringt dann auch so bedeutungsvolle Fragen zutage, wie: Bin ich richtig auf meinem Weg? Bin ich glücklich in meiner Beziehung? Mache ich wirklich das, was ich tatsächlich gern machen möchte?

Und als begeisterte Tagebuch-Schreiberin fand ich heraus, dass es ebenso möglich ist, die unvergleichlichen Erfahrungen einer Wanderung durch regelmäßiges Schreiben zu erleben. Wir setzen uns tatsächlich in Bewegung, während wir schreiben. Eine Wanderung auf Papier konfrontiert uns mit vielfältigen Abenteuern, schenkt uns ungewöhnliche Begegnungen und zeigt uns ständig wechselnde Landschaften – in uns selbst.
Wenn Sie auf Ihr Inneres hören, beginnt sich das Leben auf eine subtile, aber unverkennbare Weise zu verändern. Etwas, was ich sehr zu schätzen gelernt habe.

Wie geht das?
Eine Wanderung wäre keine Wanderung, wenn wir nicht eine bestimmte Entfernung zurücklegen. Doch wie machen wir beim Schreiben Kilometer? Für einen Kilometer wandern braucht man, wenn man gemütlich geht, ca. 20 Minuten. Um eine DIN A 4 Seite zu füllen, brauchen Sie ebenso ca. 20 Minuten. Das würde bedeuten, wenn Sie 20 Minuten täglich schreiben, haben Sie eine Entfernung von 1km zurückgelegt.

Bevor Sie Ihre Reise beginnen, können Sie sich selbst verpflichten, wie lang Ihre Wanderung werden soll – das machen wir ja bei einer tatsächlichen Wanderung auch. Legen Sie fest, wie viele Kilometer Sie schreiben wollen. Übrigens - ab einer Strecke von 100 km spricht man von einer Pilgerfahrt. Sie müssen nicht täglich auf Wandertour gehen, aber es ist sinnvoll, es mehrmals wöchentlich zu tun um tatsächlich in Bewegung zu kommen. Sie werden schnell spüren, dass Sie Ihren Blick automatisch nach Innen richten, sobald Sie den Stift in die Hand nehmen.
Und lassen Sie sich nicht von den Widrigkeiten des regelmäßigen Schreibens ausbremsen. Wie beim Wandern braucht es Zeit, bis man seinen Rhythmus findet, es können sich Blasen bilden oder der Weg ist gerade nicht gehfreundlich … Bleiben Sie dabei, Sie finden Ihren Stil und Ihr Gleichmaß.

Der Vorteil von Schreiben zu Wandern ist, dass Sie nicht erst nach Hause kommen müssen, um Ihre neuen Erfahrungen und Erkenntnisse zu integrieren. Indem Sie Ihre alten Themen bearbeiten, entstehen neue Wege. Sie können sich intuitiv von Ihren tiefsten Wünschen und Sehnsüchten leiten zu lassen. Bis zum Ende Ihrer Reise merken Sie, dass Sie immer öfter Dinge tun, die Sie glücklich und zufrieden machen.

Die Übungen sind kurz und bauen aufeinander auf. Sie können Sie immer dann machen, wenn Sie Zeit und Lust dazu haben. Und bitte – schreiben Sie einfach aus sich heraus. Sie brauchen keine Ausbildung in Schreiben. Ein Wanderer verschwendet auch keine Energie damit, auf die Eleganz seiner Schritte zu achten.
Es geht ausschließlich darum, unterwegs zu sein und sein Innerstes zu entdecken. Ihr Gepäck sind Ihre Erinnerungen, Träume, Wünsche, Sehnsüchte und Gedanken. Sie lernen, dem mehr Aufmerksamkeit zu schenken, was Ihre Seele berührt – und Sie vertrauen dem Weg Ihres Herzens. Ultreia! (Das ist der mittelalterliche Pilgerruf und bedeute „Weiter! Geht weiter“. Die Antwort des Pilgers ist „E sus eia“ („Und immer höher hinauf“)).

Bereit? Dann lassen Sie uns losgehen.
Die Wallfahrt ist in 8 Etappen eingeteilt. Für jede Etappe können Sie sich eine Woche Zeit lassen. Beschäftigen Sie sich in dieser Woche ausschließlich mit dem Inhalt dieser Etappe. Schreiben Sie so viel wie möglich auf: Gedanken, Gefühle, Impressionen, Wünsche, innere Bilder und äußere Gegebenheiten. Machen Sie Kilometer – eine DIN A4 Seite ist ein Kilometer.

Einleitung
Jeder Aufbruch braucht Vorbereitungen: Wohin soll es gehen? Was brauche ich dafür? Wie ist die Beschaffenheit des Weges, wie ist das Wetter, wo sind Rastplätze? …
Diese schriftliche Wallfahrt braucht ebenso einiges an Vorbereitungen: Was möchten Sie erreichen? Möchten Sie dafür möglicherweise ein besonderes Papier oder ein besonders ansprechendes Buch zum hineinschreiben? Mit welchem Stift können Sie besonders gut, schön, sorgfältig schreiben? Besorgen Sie sich außerdem bunte Stifte, Schere und Kleber.

Wegpunkt 1 – Vorbereitung
Ultreia! Überlegen Sie schriftlich welches Thema oder welche Themen Sie derzeit beschäftigen. Schreiben Sie ggf. einfach eine Sammlung Ihrer Gedanken und Impulse auf. Reflektieren Sie schriftlich weiter, welche oder welches Thema Sie mit auf Ihre Wanderung nehmen möchten. Worauf möchten Sie die nächsten Wochen Ihr Bewusstsein richten? Was darf in Bewegung kommen? Haben Sie sich entschieden, schreiben Sie auf, mit welchen Wunschgedanken Sie dann, am Ziel Ihrer Wallfahrt, Sie an Ihre dann bearbeiteten Themen denken möchten.

Abreise/Start
Es ist sinnvoll, den Zeitpunkt Ihres Aufbruchs zu Ihrer Wallfahrt in Ihre Innere Welt genau festzulegen. So kann sich Ihr Unbewusstes schon ganz unbewusst mit dem Gedanken anfreunden, ab Tag x auf Wallfahrt zu gehen und die Themen … im Rucksack bei sich zu haben. 

Wegabschnitt 2 – Start
Ultreia! Jeder Start in etwas Neues ist damit verbunden, dass etwas zurückgelassen wird. Stellen Sie sich die Frage: „Was lasse ich zurück?“ und schreiben Sie Ihre spontanen Antworten unbewertet untereinander auf. Das können Stichpunkte oder ganze Sätze sein. Seien Sie wirklich spontan. Stellen Sie sich die Frage immer wieder, bis Ihr Strom an Gedanken oder Impulsen verebbt ist.
Jetzt können Sie über Ihre Antworten nachdenken. Was bedeutet es für Sie, X zurückzulassen. Notieren Sie Ihre Antworten.

Wanderbeginn
Die schriftliche Wallfahrt gleicht einem Labyrinth. Es symbolisiert den Lebensweg, der niemals nur geradläufig ist. Er besteht aus einem gewundenen Weg immer weiter in das Zentrum. Sind Sie im Mittelpunkt, im Zentrum, des Labyrinths angekommen, richten Sie Ihre Aufmerksamkeit nach innen.

Wegabschnitt 3 – Mein Weg
Zeichnen Sie sich das Labyrinth ab, oder drucken Sie es so aus, dass es auf eine DIN A4 Seite passt. Der Weg sollte so groß sein, dass Sie gut darin schreiben können.

Ultreia! Nun füllen Sie Ihr Labyrinth mit Antworten zu folgenden Fragen: Was bewegt oder motiviert mich? Was sind meine Ziele? Was brauche ich?
Der Schlüssel zum Erfolg ist, in Bewegung zu bleiben: schreiben Sie, ohne anzuhalten und ohne über Ihren Text zu werten oder zu urteilen.

Ihre Antworten müssen nicht gleich ausführlich sein, lassen Sie sich Zeit. Erfinden Sie eigene Fragen.

Reisebegleiter
Auch während Ihrer schriftlichen Wallfahrt werden Sie Begegnungen der unterschiedlichsten Art haben. Menschen, Tiere, Gefühle, Landschaften, Stimmungen, Wetter, Träume … Es sind oft die unerwarteten Begegnungen, die berühren, überraschen, bewegen, nähren – und Ihrer Wallfahrt einen besonderen Impuls verleihen.

Wegabschnitt 4 – Gefährten
Ultreia! Schneiden Sie aus einem Magazin oder einer Zeitschrift Bilder von verschiedenen Menschen (bspw. Mutter, Chef, Baby, Bettler, Rennfahrer, Ziegenhirte, Straßenkünstler …), Landschaften und Stimmungsbildern (Wolken, Regen, Wellengang, Kerzenschein, Treppen … ). Stellen Sie sich vor, diesen Menschen auf Ihrem Weg zu begegnen. Schauen Sie sich Ihre Bilder genau an, ordnen Sie vielleicht die Bilder zueinander, so wie es gerade für Sie passt und lassen Sie Ihrer Phantasie freien Lauf. Wo haben Sie sich getroffen? Welche Erfahrungen teilen Sie miteinander?
Beschreiben Sie es so detailliert wie möglich und lassen Sie sich von Ihren Eingebungen überraschen. Vielleicht sprechen Sie mit Ihrem Reisebegleiter über Themen, über die Sie nie zuvor mit jemanden gesprochen haben. Und möglicherweise hat er oder sie sogar unerwartete Antworten auf Ihre Fragen.

Rast
Um mit seinen Kräften maßvoll umzugehen und diese gut einzuteilen, ist es wichtig immer wieder mal eine Pause einzulegen und sich zu stärken, zu erholen und zu ruhen. Nur wenn wir gut für uns sorgen und gut genährt sind, können wir Leistungen bringen und unsere Wallfahrt weiter gehen.

Wegabschnitt 5 – auftanken
Beginnen Sie heute mit einer Liste, wo Sie alles das drauf schreiben, was Sie gern machen, was sie früher gern gemacht haben, was Sie schon immer einmal machen wollten, weil Sie glauben, dass Sie es gern machen können. Vervollständigen Sie diese Liste an jedem Tag. Wählen Sie in dieser Woche pro Tag etwas aus Ihrer Liste aus und machen Sie es. Überlegen Sie nicht lange – tun Sie es! Jeden Tag etwas anderes. Und tun Sie es voller Hingabe, Begeisterung, Freude. Sie haben die Zeit dafür, denn Sie sind sich selbst wichtig. Lieben Sie es und lieben Sie sich.
Danach schreiben Sie auf, wie es war, wie Sie sich fühlen, was Sie davon mitnehmen wollen. Ultreia!

Ein-, Aus- und Weitsichten
Eine Wallfahrt konzentriert sich nicht auf das Ziel, sondern auf den Weg. Sie lädt Sie ein, innezuhalten und die kleinen und großen Dinge um Sie herum wahrzunehmen und zu genießen. Deshalb ist es gut auf Ihrer Wallfahrt sich Zeit einzuräumen um den Blick schweifen zu lassen und hinzuschauen, was Sie inspiriert. Das kann eine Ausstellung sein, ein Spaziergang in ein besonderes Gebiet, ein verführerisches Restaurant – egal was es ist, erleben Sie es bewusst.

Wegabschnitt 6 – Blickwechsel
Ultreia! Stellen Sie sich vor, Sie stehen auf dem Gipfel eines Berges und betrachten die Landschaft, die Bergketten, den Himmel um sich herum. Wie erscheinen Ihnen Ihre Themen aus dieser Perspektive? Was würden Sie tun, wenn Sie in dem absolut sündhaft teuren Restaurant, welches bekannt ist für seine verführerischen Desserts, ihre Anliegen als letzten Gang auf dem Tablett serviert bekämen? Was, wenn Sie als Lilliput im Land der Riesen, zwischen Ihren felsgroßen Themen ausgesetzt werden?
Spielen Sie mit den Blickrichtungen, Größen, Abständen oder Dichten.

Den Weg verlieren
Manchmal geschieht es einfach: Sie glauben auf dem rechten Weg zu sein und gehen im guten Glauben tagein - tagaus weiter, bis …….. Ja, bis Sie merken, Sie haben Ihren Weg verloren. Aufgrund des raschen Lebenstempos richten wir unseren Blick meist nur nach Außen: das soziale Umfeld, die Informationsfluten, Internet, Anforderungen … Dann vergisst man leicht, wo man hin möchte und verliert seinen Weg aus den Augen.
Einem richtigen Wallfahrer oder Pilger passiert das mindestens einmal. Sie denken, Sie wissen genau, wo Sie sind, entdecken aber plötzlich, dass Sie ganz wo anders sind. Sie können Ihre Aufmerksamkeit und Achtsamkeit wieder ganz auf sich richten, indem Sie durch das Schreiben den Kontakt zu Ihrem Inneren, Ihrem Herzen, Ihrem Seelenwunsch wieder finden.

Wegabschnitt 7 – Den Weg wiederfinden
Ultreia! Wählen Sie aus einer Zeitschrift 5 Seiten und machen Sie eine Liste der dort gefundenen, Sie berührenden Worte und Bildern.
Schreiben Sie danach mindestens 10 Minuten über das Thema: Wie Sie es machen, dass Sie den Kurs in Ihrem Leben bestimmen. Dazu benutzen Sie die gefundenen Worte und Bilder aus der Liste. Danach lesen Sie den Text und unterstreichen Sie eine Aussage, die Sie besonders anspricht. Nehmen Sie die unterstrichene Aussage und schreiben Sie darüber innerhalb der nächsten 6 Minuten einen weiteren Text.
Lesen Sie Ihren nun geschriebenen Text und unterstreichen Sie ein Wort, eine Aussage, die Ihnen besonders auffällt. Nun schreiben Sie über das unterstrichene Wort oder die Aussage 3 Minuten.
Lesen Sie nun Ihren gesamten Text noch einmal durch und schließen Sie mit drei Zeilen ab, die wie folgt beginnen: „Während des erneuten Lesens fällt mir auf, dass… “

Ankunft
Auf dieser schriftlichen Wallfahrt ist das Innere Ihr Kompass und Ihr Ziel. Das Ende einer jeden Reise ist auch ein Neuanfang. Sie haben gelernt zur Ruhe zu kommen und Dinge zu genießen die Sie inspirieren und berühren. Und wie wir unsere Wünsche im Leben aufspüren und bewegen.

Wegabschnitt 8 – Manifestation
Ultreia! Spüren Sie noch einmal den Wochen Ihrer schriftlichen Wallfahrt nach. Wenn Sie möchten, lesen Sie noch einmal Ihre Texte, die Sie auf Ihrem Weg geschrieben haben. Welche Gedanken, Visionen, Empfindungen und Stimmungen waren hilfreich? Wie geht es Ihnen heute, am Ziel Ihrer Wallfahrt? Welche Erfahrungen, Erlebnisse, Gefühle und Impulse möchten Sie für Ihren weiteren Weg festhalten?
Suchen Sie in Zeitschriften nach Bildern, Worten oder Symbolen die das ausdrücken, und kleben Sie es als eine große Collage auf ein Stück Karton. Diese stellen oder hängen Sie für sich gut sichtbar an einen Platz, wo Sie immer wieder darauf blicken und von Ihrer Wallfahrt zehren können. Sobald Sie Ihren Weg wieder einmal glauben zu verlieren, schauen Sie darauf und lassen Sie sich von Ihrem Inneren leiten.

Herzlichen Glückwunsch, Sie haben es geschafft.

Bildnachweis: Kathrin Stavenhagen